Argentinien 🇦🇷
Im katholischen Vergnügungspark
Wie so oft ist der Winterhimmel über Buenos Aires grau verhangen, es nieselt. Wir sitzen im Stadtbus Nummer 37, der uns an den Rand der argentinischen Hauptstadt bringt. Als wir bei der Endstation der Buslinie aussteigen, finden wir uns in einem etwas trostlosem Industriegebiet wieder. Männer fischen an der betonierten Uferpromenade des Río de la Plata, nicht unweit von uns startet eine Boeing mit ohrenbetäubendem Getöse vom Aeroparque, dem zweitgrößten Flughafen der Stadt, und donnert über unsere Köpfe hinweg. Wir sind auf der Suche nach dem Gelobten Land, der Tierra Santa. "Dort drüben, hinter dem Grill-Restaurant", weist uns ein Fischer in eine Richtung, nachdem wir ein wenig ratlos umhergesucht haben. Und wirklich! Zwischen Stadtautobahn und Flughafen eingeklemmt prangert über einem breiten Eingangstor in riesigen Lettern der Schriftzug "Willkommen im Gelobten Land!", Parkplatz links, Ticketschalter rechts. Hinter einer Steinmauer aus Kunststoff, die mehr an die Geisterbahn im Wiener Würstelprater erinnert als an eine orientalische Stadtmauer, lockt der weltweit erste religiöse Vergnügungspark.
Wir haben hohe Erwartungen, hat uns doch schon die Besitzerin unserer Pension von den Attraktionen vorgeschwärmt. "Es super lindo!", strahlte sie übers ganze Gesicht, als wir heute morgen fragten, ob sich die lange Anfahrt auszahlt - "Wunderschön!". Der Ticketkauf ist auf alle Fälle bereits vielversprechend: Die junge Verkäuferin an der Kartenkasse ist in eine arabische Tunika gehüllt und drückt uns gemeinsam mit dem Eintrittsticket ein Programmheft in die Hand. "Wenn Sie schnell sind, erwischen Sie noch die Geburt Jesu in 10 Minuten", verrät sie uns. Perfekt, da haben wir vorher noch kurz Zeit, auf den Golgotha Hügel zu steigen. Von der effektvoll beleuchteten Kreuzigungsgruppe aus hat man einen guten Blick über die Anlage. Die Parkbetreiber haben ganze Arbeit geleistet: Vor den Hochhaustürmen der Großstadt breitet sich eine Art Mini-Jerusalem zu unseren Füßen aus. Zwischen den Imitat-Lehmdächern erspähen wir eine Kirche, eine Synagoge, einen römischen Tempel. In der Ferne erkennen wir die Klagemauer, in einer anderen Ecke entdecken wir einen Ölgarten. Auf riesigen Playmobil-Palmen hängen bunte Scheinwerfer, unter uns rauscht ein künstlicher Jordan, in dem Jesus gerade von Johannes getauft wird. Während wir unsere Blicke schweifen lassen, jagt gerade der nächste Düsenjet im Landeanflug über die orientalische Stadt. Wir sind begeistert.
Am Fuß des Hügels kontrolliert ein römischer Soldat nochmals unsere Eintrittstickets
Doch wir müssen wieder hinunter, denn es ist bereits Zeit für die Geburtsstunde Jesu. Am Fuß des Hügels kontrolliert ein römischer Soldat nochmals unsere Eintrittstickets und winkt uns in das Innere des Berges, wo in einer Art Amphitheater schon eine erwartungsvolle Menge Platz genommen hat. Kaum haben wir in den hinteren Reihen noch einen freien Sitz gefunden, verdunkelt sich der Raum und das Spektakel beginnt. Nebelmaschinen rauchen, pompöse Weihnachtsmusik erklingt, eine aufwändige Scheinwerferchoreographie beleuchtet die Szene. Während Engerl über den Himmel fliegen, werden auf der Bühne Hirtenfiguren auf unsichtbaren Schienen hydraulisch in Richtung Stall vors Jesukindchen geschoben, Plastikschafe blöken. Da zieht schon der Weihnachtsstern seine Kreise am Firmament, die Heiligen Drei Könige reiten mit ihren Kamelen ein, und ein pompöses Gloria in Excelsis Deo schallt aus der Lautsprecheranlage, während eine sonore Männerstimme das Weihnachtsevangelium verkündet. Was für eine Show!
Wir schauen in unser Programmheft, da dürfen wir keine Attraktion verpassen. Erschaffung der Welt mit Lasershow, das Letzte Abendmahl mit animierten Wachsfiguren. Unser Heftchen wirbt enthusiastisch: "Für viele ist das Letzte Abendmahl die emotionalste Show des Parks. Sie besticht durch ein bemerkenswertes Ambiente, in dem Jesus unglaublich real wirkt und Sie einlädt, mit Ihm Sein Letztes Abendmahl zu feiern. Diese Licht- und Klangshow wird für alle Besucher ein Moment unglaublicher Spiritualität." Wir können den religiösen Kitsch kaum fassen, doch die Argentinier sind begeistert. Mit Digitalkameras bewaffnete Klosterschwestern fotografieren begeistert, wie Jesus den Kelch hebt und dazu mechanisch seine Lippen bewegt. Kinderaugen glänzen, ältere Damen sind gerührt, junge Paare bewundern die Szenerie ehrerbietig.
Zwischen den einzelnen Shows bleibt genug Zeit, durch die Gassen der Playmobilstadt zu wandern. Verkleidete Benediktiner Mönche weisen den Weg und ermahnen beim Eingang der Moschee, die Schuhe auszuziehen. In der Pizzeria Salem und im Restaurant Betlehem servieren Beduinenfrauen orientalische Spezialitäten, in kleinen Buden werden heiße Schokolade und Popcorn verkauft. An diesem kalten, regnerischen Winterabend leert sich der Park am Abend allerdings schnell. Die meisten Lokale sind schon halbleer, als wir unsere Runde drehen, und auch die Souvenirverkäufer beginnen schon langsam, ihre Marienbilder und Rosenkränze einzupacken. Die als römische Soldaten verkleideten Security-Leute wirken ebenfalls bereits ein wenig gelangweilt. Es ist offensichtlich nicht mehr viel zu tun.
Der Fels öffnet sich und eine riesige Christusstatue entsteigt dem Bauch des Berges
Uns hat es die Spielzeugstadt allerdings trotz kaltem Winterwetter und Nieselregen angetan. In jeder Ecke werden in aufwändiger Weise biblische Szenen aus dem Leben Jesu nachgestellt. Ein wenig erinnern uns die Figurgruppen ja an die Linzer Grottenbahn, doch hier schläft weder Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg, noch spaziert Rotkäppchen mit ihrem Korb durch den Wald, sondern Jesus lässt Lazarus wieder auferstehen, Herodes spricht das Todesurteil, Römer geißeln den Menschenretter. Aber auch eine Homage an Gandhi und Martin Luther darf nicht fehlen, sogar Papst Johannes Paul II hat schon seinen eigenen Schrein, der bei den Besuchern sehr gut ankommt. Gerade als wir vorbeikommen wirft eine junge, fesche Argentinierin ihr Haar und posiert neben der lebensgroßen Wachsfigur des letzten Papstes lächelnd fürs Foto.
Gleich gegenüber von Johnnes Paul II beginnt vor dem römischen Tempel die letzte Live-Show für den heutigen Abend, eine orientalische Band hat Aufstellung genommen. Recht anmutig wirkt die Tänzerin allerdings nicht, wahrscheinlich liegt den Argentiniern der Tango doch mehr im Blut als babylonischer Bauchtanz. Und auch der Keyboardspieler, der sie mit orientalischer Retortenmusik begleitet, haut eher unmotiviert in die Tasten. Kein Wunder, die Kälte lässt wenig Wüstenflair aufkommen.
Auch wir frieren allmählich ganz schön, doch die letzte Attraktion können wir uns unmöglich entgehen lassen. Um Punkt 20:50 Uhr wird nämlich Jesus auferstehen. Schon 10 Minuten vorher sitzen wir am Flussufer des künstlichen Jordans und warten ungeduldig. Plötzlich beginnt der Golgothahügel zu rauchen, der Fels öffnet sich und zu Händels Halleluja entsteigt eine riesige Christusstatue dem Bauch des Berges. Jesus öffnet und schließt seine Augen, wirft seinen Kopf in den Nacken und segnet mit ausgebreiteten Armen alle Anwesenden, bevor er zu Kirchengeläut wieder im Berg versinkt. Schlichtweg ergreifend! Wir sind vollkommen zufrieden, wandern als Letzte beim Ausgang hinaus und nehmen den Bus zurück in die Stadt.