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Auf nach Osten

Ukraine 🇺🇦

Aufbruch

Graz, Juli 2017

Das Grazer Orpheum im Jänner 2016. Wir sind mit dem Fahrrad zum Konzert gekommen, die Kälte steckt uns noch in den Knochen, aber drinnen kocht der Saal. Auf der Bühne greift Frank Turner in die Seiten seiner Gitarre und stimmt einen seiner vielen Roadsongs an: „To the east, to the east, the road beneath my feet”. Wir singen lauthals mit. „To the west, to the west, I haven’t got there yet“.  Während Turner den Songtext in die Menge schleudert wird uns einmal mehr bewusst, wie sehr uns das Reisen abgeht.

 

Wobei man ja wirklich nicht behaupten kann, dass unser Leben hier in Österreich langweilig wäre. Im Gegenteil. Seit wir vor fast zehn Jahren von unserer Reise aus Nord- und Südamerika heimgekehrt sind, ist einiges passiert. Wir durften die Geburt unserer beiden Töchter Hedi und Mavie feiern, sind von Wien nach Graz gezogen und haben eine Wohnung mit kleinem Garten gekauft. Unsere neue Heimatstadt gefällt uns ausgesprochen gut, mittlerweile haben wir auch einige neue Freunde gewonnen, die wir nicht missen wollen. Und trotzdem nagt bei uns beiden im Hinterkopf immer ein wenig das Fernweh. Oft ist es kaum zu spüren, vor allem dann nicht, wenn uns der Alltag mit seinen tausenden wichtigen und unwichtigen Kleinigkeiten gefangen hält. Aber manchmal bricht es mit voller Gewalt hervor. Wie gerade jetzt, als wir inbrünstig mit Frank Turner mitbrüllen. „And I’ve driven across deserts driven by the irony, that only being shackled to the road could ever I be free”. Eigentlich wissen wir es insgeheim schon länger, aber spätestens jetzt, als wir nach dem Konzert in die kalte Grazer Nacht hinein radeln, ist uns klar: Wir müssen wieder los.

Wir räumen unsere Wohnung aus

Unsere vier Pässe liegen am Küchentisch bereit

Eineinhalb Jahre später. Die gefühlte zehnte Hitzewelle des Jahres rollt über Südösterreich, es hat knapp 30 Grad. Stefan sitzt gerade mit seinem Laptop im Schatten eines Baums in unserem Garten und beginnt die ersten Wörter des neuen Reiseberichts zu tippen, Mavie spielt nebenbei mit ihrem Wasserkanal „Frachtschiff-transportiert-Ribisel“. In etwas mehr als einer Woche soll es losgehen, und langsam steigt bei uns die Nervosität. Eigentlich sollte der Aufbruch für uns ja schon zur Routine geworden sein - immerhin haben wir ja schon zweimal eine Auszeit erleben dürfen - aber trotzdem ist diesmal vieles ein wenig anders.

 

Wir freuen uns beide schon auf die lange Zugfahrt in Richtung Osten. Die Zugtickets der transsibirischen Eisenbahn bis nach Irkutsk am Baikalsee sind längst gebucht, das Campingzeug ist bereits in eine Kiste verpackt und in die Mongolei verschickt. Unsere vier Pässe liegen am Küchentisch bereit, immer wieder schlagen wir die Seiten mit den bereits eingeklebten russischen Visa auf und bestaunen die Eintrittstickets in ein neues Abenteuer. Trotz der ganzen Vorfreude ist uns aber auch bewusst, dass wir eine nicht zu unterschätzende Verantwortung für unsere beiden Mädels übernehmen. Anders als auf den letzten Reisen sind wir diesmal zu viert unterwegs. Wir freuen uns auf die gemeinsame Zeit, die wir als Familie miteinander verbringen dürfen, sind uns aber auch im Klaren, dass da wohl die eine oder andere Herausforderung auf uns zukommen wird.

Hedi ist gerade 7 Jahre alt geworden, Mavie ist 5. Die beiden können die Fahrt mit dem ersten Nachtzug von Wien nach Krakau kaum erwarten. Hedi studiert begeistert unseren kleinen Globus im Wohnzimmer und erzählt allen, dass sie auf der chinesischen Mauer spazieren wird. Mavie freut sich schon auf die vielen Tiere, die sie in der mongolischen Steppe entdecken wird. In ihrer Vorstellung, so scheint es, ist die Reise eine einzige Aneinanderreihung von Pferden, Kamelen, Affen und Delphinen. Doch Christa und Stefan können nur allzu viele Lieder singen über ewige Fahrten in vollgestopften Bussen, über stickige Nächte in dreckigen Hotelzimmern, eiskalte Duschen oder endlose Warterei in heruntergekommenen Bahnhöfen. Für uns beide macht das Verlassen der Komfortzone ein Stück weit den Reiz des Reisens aus. In dieser Hinsicht werden wir gemeinsam mit unseren Kindern diesmal einen Kompromiss finden müssen, aber wir werden den beiden wohl nicht jede Strapaze ersparen können und wollen.

Wir besichtigen die Exclusion Zone rund um Tschernobyl

Wir können schwer einschätzen, wie sehr die beiden ihre Freunde vermissen werden

Nicht, dass unsere Kinder keine Erfahrung im Reisen hätten: Hedi hat ihren ersten Geburtstag auf einem Campingplatz in Griechenland gefeiert. Mavie war keine 6 Monate alt, als wir mit ihr zu viert mit Zelt und Auto ein Monat lang Sizilien erkundet haben. Aber auch wir kennen die unausweichliche Frage, die alle Jungeltern in Angst und Schrecken versetzt: „Wann sind wir endlich da?“ Und das fünf Minuten nach Abfahrt. Plötzlich erscheint die Vorfreude auf eine 4 tägige Fahrt mit der Transsib in einem anderen Licht.

 

Außerdem können wir schwer einschätzen, wie sehr die beiden ihre Freunde aus Kindergarten und Schule vermissen werden, wie sehr sie sich mit Mama und Papa zufriedengeben werden. Für die beiden ist ein Jahr eine im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbar lange Zeit. Hedi wird die zweite Schulstufe versäumen, Mavie ihr letztes Kindergartenjahr. Auch wenn es für unsere Kinder auf der Reise immer wieder Neues und Aufregendes zu entdecken geben wird, hoffen wir, dass wir zwischendurch im nächsten Jahr nicht allzu viele Heimwehtränen trocknen werden müssen.

 

„Papa, können wir jetzt endlich spielen?“ Mavie wird langsam ein wenig ungeduldig, die Ribisel müssen schließlich mit dem bereitstehenden Spielzeugkran vom Plastikschiff abgeladen werden. Wahrscheinlich ist das wohl sowieso die beste Idee: Laptop zuklappen, Ribisel naschen und das Abenteuer auf uns zukommen lassen. Oder wie Frank Turner singen würde: „Yes so saddle up your horses now and keep your powder dry, you won’t find your precious answers now by staying in one place, yeah by giving up the chase.”

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