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Vom langen Warten
auf den Berg

Argentinien 🇦🇷

Wandern in Patagonien

El Chalten, Mai 2008

Um halb sieben Uhr morgens stapfen wir in die dunklen, verlassenen Staubstraßen von El Chaltén hinaus. Vor allem jetzt im Dunkel der Nacht wirkt das behelfsmäßig zusammengezimmerte Dorf noch trostloser als am Tag. Über uns funkeln die Sterne, die Kälte kriecht uns in die Knochen. Im Westen des Ortes wachsen die südlichsten Granittürme der argentinischen Anden majestätisch aus der flachen Pampa 3000 Meter steil in die Höhe. Gleich dahinter begräbt das südliche patagonische Inlandeis im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Chile Berge und Täler unter einem meterdicken Panzer aus blauem Eis. Die Gletscher hier am Rand der öden Grassteppe zählen zu den letzten noch wachsenden Eismassen der Welt, die Eiswürfe rund um das Dorf Chaltén werden noch nicht von höheren Temperaturen aufgefressen.

Mit schnellen Schritten laufen wir nun im Dunkeln die einsame Hauptstraße des Ortes hinunter, um uns ein wenig aufzuwärmen. Schon seit genau einer Woche belagern wir den Cerro Torre, der nicht weit vom Dorf zusammen mit seinen Satellitentürmen am Ostrand des Inlandeises thront. Gesehen haben wir den Berg noch nie. Unter Kletterern gilt der erst 1974 zum ersten Mal bezwungene Torre als schwierige und begehrte Trophäe, doch uns würde schon ein kurz erhaschter Blick auf den berühmten Gipfel genügen, um unsere Reise durch Patagonien zu krönen. Doch Westwinde, die unaufhörlich vom Pazifik her über die patagonischen Eismassen und das Massiv des Cerro Torres peitschen, hüllen den Berg fast immer in Wolken. Keine 80km westlich von El Chaltén werden auf der chilenischen Seite des Eises jährlich 8m Regenfall gemessen, der höchste Wert außerhalb der Tropen. Über dem Inlandeis und rund um den Cerro Torre sind es noch immer 5m Niederschlag pro Jahr, der hier fast ausschließlich als Schnee fällt. Kein Wunder, dass wir bei diesen Wetterbedingungen bis jetzt erfolglos waren.

Der Cerro Torre zeigt sich nur einmal flüchtig

Am fünften Tag müssen wir jedoch enttäuscht aufgeben

Eine mangelnde Ausdauer kann man uns ja nicht vorwerfen: Schon vor einer Woche waren wir zum ersten Mal mit unseren Rucksäcken aufgebrochen, um drei Stunden Fußmarsch vom Dorf entfernt am Ufer der Laguna Torre für einige Tage unser Zelt aufzuschlagen. Wir träumen von einem Sonnenaufgang am Fuß des markanten Gipfels. Jetzt im Spätherbst waren wir die einzigen, die beim Gletschersee campierten. Und was für ein schöner Zeltplatz: Am anderen Ende der Laguna wirft sich der Glaciar Grande vom Inlandeis herunter und kalbt in den See, im milchigen Wasser schwimmen Eisschollen. Die verfärbten Blätter der Südbuchen haben die Hügel rund um uns in ein feuerrotes Kleid gehüllt, Kondore ziehen majestätisch ihre Kreise. Doch schon am ersten Abend zogen Wolkenfetzen um, und am entfernten Ufer des Gletschersees, dort, wo der Cerro Torre stehen sollte, klaffte eine bleierne Lücke. Morgen, so waren wir uns zu dem Zeitpunkt noch sicher, als wir für die erste Nacht in unser Zelt krochen, wird sich der Berg schon zeigen. Kaum verschwand an diesem Herbsttag die trübe Sonne hinter den Bergen wurde es empfindlich kalt. Hose und Pulli haben wir uns in der Nacht gleich gar nicht ausgezogen, und so blieb es im Daunenschlafsack angenehm warm.

Am nächsten Morgen drückten jedoch graue, bleierne Wolken unsere Stimmung. Uns wurde schön langsam klar, dass wir den Berg so bald nicht zu Gesicht bekommen würden. Schneeflocken flankerlten auf unser Zelt und gegen Mittag trieb ein böiger Windsturm Sand und Staub durchs Tal und ließ es so richtig ungemütlich werden. Glücklicherweise hatten wir unsere Schnapskarten mit.

In den nächsten Tagen änderte sich das Wetter kaum. Wir kochten im Zelt, spielten Karten und stellten Wetterprognosen an. Jeden Tag starteten wir einen kleinen Ausflug und erkundeten das Ufer der Lagune, die Eiswände des nahen Gletschers, den Cerro Fitz Roy im nächsten Tal. Uns gefiel es in dieser Welt aus Fels und Eis, auch wenn sich der schüchterne Cerro Torre nicht zeigen wollte. Über der Bergkette toste das Unwetter, der orkanartige Sturm brachte die Wasseroberfläche der Laguna Torre zum Brodeln, eine Windböe blies Stefan einmal sogar um. Am fünften Tag mussten wir jedoch enttäuscht aufgeben: Unsere Essensvorräte waren aufgebraucht, zurück ins Dorf. Schade.

Wandern im Torres del Paine Nationalpark

Es sieht nicht schlecht aus, am Himmel funkelt das Kreuz des Südens

Nach ein wenig Suchen war eine nette Unterkunft gefunden. Im Mai hat in El Chaltén bereits fast alles geschlossen, das Dorf hat sich für den kommenden Winter verbarrikadiert. Die Fenster vieler Restaurants sind mit Zeitungspapier zugeklebt, die Lokale der Outdoor Agenturen, die im Sommer Abenteuer verkaufen, sind zu dieser Jahreszeit leer geräumt. Allzu idyllisch wirkt der Ort vor allem jetzt im Spätherbst nicht. El Chaltén gleicht eher einer modernen Version einer Wildweststadt. Überall stehen Mischmaschinen und Baugeräte herum, Schilder kündigen von bevorstehenden Bauvorhaben: Hier wird einmal die Post stehen, dort wirbt eine zukünftige Buchhandlung bereits um Kunden, während hinter der Werbetafel noch ein Rohbau wie ein Skelett in den Himmel ragt. Das schnell zusammengezimmerte Haus neben der künftigen Buchhandlung ist bereits wieder verlassen. El Chaltén ist Argentiniens jüngste Siedlung. Das Dorf wurde erst im Dezember 1985 gegründet, um die Ansprüche des Landes über das Gebiet am Rande des Inlandeises gegenüber Chile zu untermauern. Noch immer ist der Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern hier im Süden Patagoniens nicht endgültig festgelegt und immer wieder Grund für Feindseligkeiten zwischen den beiden ehemaligen spanischen Kolonien.

Gestern Abend feierten wir dann nach fünf Tagen zelten in einer noch offenen Pizzeria des Ortes gemütlich mit einer Flasche Rotwein die Errungenschaften von Heizung und Esstisch. Die Hoffnung auf den Cerro Torre hatten wir bereits aufgegeben, heute Morgen wollten wir um 5 Uhr früh den Bus weiter in die nächste Stadt nehmen. Doch die nette Besitzerin der Pizzeria hörte von unserer erfolglosen Belagerung des Berges und setzte sich zu uns an den Tisch. Morgen, so versprach sie, ist perfektes Wetter, also änderten wir nochmals unsere Pläne.

So stapfen wir jetzt in der Finsternis den Ort hinaus und wieder das Tal zu den Bergen hinauf. Es sieht nicht schlecht aus, am Horizont funkelt das Kreuz des Südens und weist uns den Weg. Langsam arbeiten wir uns mit einer Stirnlampe ausgerüstet die Hügel am Rand des Dorfes hinauf. Der funkelnde Nachthimmel weckt unsere Hoffnungen, doch – so wissen wir bereits – auch bei sternklarer Nacht am Rand der Steppe versteckt sich der Cerro Torre weiter hinten im Tal meist in einem grauen Wolkenkleid. Beim ersten Aussichtspunkt werden wir Gewissheit haben, ob wir statt auf die spektakuläre Granitspitze einmal mehr ins graue Nichts starren.

Anders als in den letzten Tagen weht heute morgens kein Lüftchen, kein Blatt rührt sich im Wind. Wir trauen uns fast nicht mehr zu hoffen. Haben wir nach so langem Warten diesmal Glück? "Ist das eine Wolke dort drüben?" - "Nein, ich seh einen Stern!" Langsam färbt die aufgehende Sonne den Himmel zuckerlrosarot und wir biegen um die nächste Ecke. Da steht plötzlich vollkommen unvermittelt das ganze Massiv in seiner vollen Pracht! Wir können es kaum fassen. Genau dort, wo in den letzten Tagen stets dichte Wolken gehangen haben, ragt heute schroff der Cerro Torre in den Himmel, eine gewaltige Haube aus Eis krönt seine fragile Spitze. Voller Freude stehen wir bei Sonnenaufgang am Ufer der Laguna Torre und bewundern die zackigen Granitwände, die hinter dem See steil in die Höhe wachsen. Gestern hat uns hier der Wind umgeblasen, doch heute morgen liegt der See wie ein glatter Spiegel ruhig vor uns, zwischen den Eisschollen reflektieren sich die Spitzen des Berges im Wasser. Unvorstellbar für uns, dass waghalsige Kletterer bereits auf der Spitze dieser Granitnadel gestanden haben, und doch fühlen wir uns nach dem langem Warten jetzt gerade ein wenig so, als hätten wir den Gipfel selbst bezwungen! Uns beiden ist den gesamten Tag das Glück nicht mehr aus dem Gesicht zu wischen: Genauswo wie die bleiernen Wolken um die Spitze des Berges ist auch die Erinnerung an die kalten Nächte im Zelt plötzlich wie weggeblasen. Ungläubig starren wir immer wieder auf das gewaltige Massiv, können uns vom Anblick des Berges fast nicht mehr losreißen, schießen Foto um Foto. Was für ein Augenblick! Bis zur letzten Minute kosten wir das prachtvolle Panorama aus, bis wir dann schließlich doch wieder aufbrechen müssen. Die Sonne steht bereits tief und wir müssen noch zurück ins Dorf.

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