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Am Ende Europas

Norwegen 🇳🇴 

Der nördlichste Parkplatz Europas 

Nordkap, August 2024

Es ist spät am Abend, die tiefstehende Sonne taucht die kahlen Hügel in ein warmes Licht.

 

Vor ungefähr einer halben Stunde sind wir durch den Nordkaptunnel vom Festland unter dem Meer hindurch auf die Insel Magerøya gefahren, auf der das Nordkap liegt. Um diese Uhrzeit ist wenig Verkehr. Wir überholen lediglich ein paar Radfahrer mit schwerem Tourengepäck, die sich die kurvige Straße über die letzten Pässe hinauf in den Norden plagen. Bei uns im Auto ist die Stimmung aufgekratzt, als wir uns dem Ende der Straße nähern. Viel weiter nördlich werden wir so schnell nicht mehr kommen!

 

Wobei der Mythos vom Nordkap als nördlichster Punkt Europas bei genauerer Betrachtung ja nicht recht viel mehr ist als ein guter Marketinggag: Das Nordkap ist nicht einmal auf der Insel Magerøya selbst der nördlichste Punkt: Die nächste Landzunge etwas westlich – mit dem wunderbaren Namen Knivskjelodden – liegt fast zwei Kilometer nördlicher, ist aber mit dem Auto nicht erreichbar. Außerdem spuckt die viel weiter im Norden gelegene Inselgruppe Spitzbergen in die Suppe, und das zu Russland zählende Franz-Josefs-Land liegt nochmals weiter nördlich und gehört ebenfalls noch zu Europa.

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Von solchen Kleinigkeiten lassen wir uns aber heute nicht ablenken.

Seit wir vor etlichen Monaten Cape Agulhas, den südlichsten Punkt Afrikas, besucht haben, steuern wir diesen Punkt am Ende Europas an. Noch einmal führt die enge Straße vom letzten Fischerdorf aus steil bergauf, bis wir den nördlichsten Parkplatz Europas erreichen, der ohne Schiff oder Fähre vom Festland aus erreichbar ist. Wir sind nicht allein. Hier steht Wohnmobil an Wohnmobil, gefühlt hunderte weiße Kästen parken in geordneter Reihe auf Schotter. Mit etwas Mühe finden wir noch eine Parklücke.

 

Als wir die Autotüren öffnen, pfeift uns der kalte Nordwind um die Ohren, es hat gerade einmal 6 Grad. Wir ziehen uns die Hauben tiefer ins Gesicht und stapfen die hundert Meter vorbei am Besucherzentrum zur berühmten Weltkugel aus Stahl. Der Globus thront ziemlich beeindruckend am Rand der steilen Klippen, die hier über dreihundert Meter senkrecht ins Meer abfallen. Wir haben Glück mit dem Wetter: Nur im Norden hängt ein dünnes Wolkenband am Horizont, das von der Mitternachtssonne golden eingefärbt wird. Der Ausblick auf die ruhig vor uns liegende Barentssee ist spektakulär. Mavie will wissen, ob man von hier aus den Nordpol sehen kann. Das wäre schon ziemlich cool, allerdings fehlen von den Klippen des Nordkaps noch immer über zweitausend Kilometer bis zum nördlichsten Punkt der Erde.

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Wir teilen uns die Aussicht auch jetzt um Mitternacht mit einer ganzen Menge  anderer Touristen.

Reisebusse spucken Gruppen von Kreuzfahrtpassagieren aus, die sich laut schnatternd gegenseitig fotografieren. Sektkorken knallen. Eine deutsche Biker Gang tuckert mit ihren Motorrädern bis an die Weltkugel heran. Schweizer Radfahrer stemmen vor dem Globus mit beiden Händen triumphierend ihren Drahtesel in die Luft. Eine Kenianerin entrollt zum Posieren fürs Foto eine riesige Nationalflagge. Der Rummel um uns herum ist fast surreal, die Stimmung ansteckend, auch wenn uns der Trubel bald einmal zu viel wird. Wir müssen uns mit der Kamera in der Hand für ein Foto vor der Weltkugel förmlich anstellen. Als wir endlich einen Platz auf dem Sockel des Denkmals ergattern, braucht Stefan einem deutschen Motorradjünger offenbar zu lange mit dem Abdrücken. Er hat nicht mitbekommen, dass wir deutsch sprechen: „Wie wäit for piktschörs hier tuu!“, pöbelt er, während er kurzerhand zu uns heraufgeklettert kommt. Belustigt ziehen wir wieder ab, wir haben genug gesehen.

 

Eigentlich dürften wir mit unserer entrichteten Parkgebühr neben den anderen Wohnmobilen die ganze restliche Nacht direkt hier am Kap stehen bleiben. Die Parkplatzatmosphäre und das ständige Kommen und Gehen ist allerdings nicht so unbedingt unsere Sache. Da fahren wir lieber ein paar Kilometer die Straße zurück und suchen uns entlang eines Schotterweges auf einem Grashügel einen Stellplatz mit herrlicher Aussicht auf die Tundra von Magerøya. Hier sind wir allein, das gefällt uns besser. Als wir um 2 Uhr in der Nacht unser Dachzelt aufbauen, wärmt die Sonne bereits wieder merklich, während sie wieder höher in den Himmel klettert. Für uns heißt es jetzt trotzdem schlafen gehen. Wir sind mit dem Nordkap als nördlichsten Punkt unserer Reise nicht ganz zufrieden. Noch ein Grund mehr, morgen die 17 Kilometer lange Rundwanderung zum Kap Knivskjelodden in Angriff zu nehmen!

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Am Ausgangspunkt zur Wanderung stehen am nächsten Tag nur ein paar Autos.

Als wir starten, herrscht herrliches Wetter, links und rechts schweift unser Blick über weite Tundra. Kleine Blumen blühen zwischen dem saftig grünen Moos, in der Ferne blitzt blau das Meer. Der Weg führt eine Hügelkette entlang in Richtung Norden. Bald geht es eine Steilstufe hinunter in eine Bucht, auf deren anderer Seite die Klippen des Nordkaps emporragen. Vor uns grast neben dem Weg eine Herde Rentiere, im Meer spielt eine Schule Delfine, eine neugierige Seerobbe streckt ihren Kopf aus dem Wasser und schaut in unsere Richtung.

 

Nach zweieinhalb Stunden endet der Weg bei einer kleinen Halbinsel aus großen, flach ins Meer ragenden Felsblöcken. Zufrieden jausnen wir in der warmen Sonne unsere Gummischlangen. Mavie platziert neben einem kleinen Denkmal einen bunten Stein, den sie seit Simbabwe mitträgt. Hedi sucht den allerletzten, nördlichsten Felsen, auf dem sie gerade noch balancieren kann, ohne ins Eismeer zu kippen. Genau in dem Moment — jetzt wird es kitschig — taucht ein kleiner Wal in unmittelbarer Nähe vor uns auf und zeigt uns seine Rückenflosse. Was für ein Spektakel.

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Je länger wir sitzen und genießen, desto mehr Wolken ziehen am Horizont auf.

Wir bewundern noch die mystische Stimmung und beobachten Nebelfetzen, die das nicht weit entfernte Nordkap umwehen, als sich auch hinter uns eine Wolkenbank über den Bergrücken des Knivskjelodden drückt. Wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt, den Rückweg anzutreten.

 

Wir haben etwas unterschätzt, wie schnell sich das Wetter hier ändern kann. Innerhalb kurzer Zeit weht kalter Wind, nach nur ein paar Minuten sehen wir im dichten Nebel keine 50 Meter mehr. Es beginnt, aus den Wolken heraus zu nieseln. Jetzt sind wir froh, unsere Handschuhe und dicke Jacken in den Rucksack gepackt zu haben. Der gerade noch gut sichtbare Pfad verschwindet hinter Nebelschwaden, die leicht kupierte Landschaft sieht plötzlich überall gleich aus. Es besteht keine Gefahr, uns zu verirren, aber am Weg zurück müssen wir uns von einer orangenen Plastikstange zur nächsten hanteln, die hier in regelmäßigen Abständen in den Boden gerammt den Weg markieren, und über die wir uns beim Hinweg noch ein wenig lustig gemacht haben.

 

Etwas durchnässt und erschöpft sehen wir schließlich die Umrisse unseres Auto aus dem Nebel auftauchen. Schnell schlüpfen wir hinein und drehen die Heizung auf die wärmste Stufe. Was für eine ereignisreiche Wanderung. Wir sind mit unserem nördlichsten Punkt jetzt sehr zufrieden: Genau so haben wir uns das Ende der Welt vorgestellt!

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